Diez

Erinnerungen eines letzten Staatsanwalts des Auschwitzprozesses

Gerhard Wiese berichtete in Diez

Dass Gerhard Wiese, der letzte noch lebende Staatsanwalt des Frankfurter Auschwitzprozesses (1963–1965), bereits 96 Jahre alt ist, fällt schwer zu glauben, wenn man seinen energisch und stringent vorgetragenen Ausführungen zuhört. Mehr als 70 Menschen taten dies am Sonntagnachmittag im Pfarrsaal Diez sehr aufmerksam.

Wiese erzählt: Geboren 1928 in Berlin, wurde er noch während der Schulzeit als Flakhelfer eingezogen. Mit Glück überlebte er die Wirren und Gefahren des Kampfes um Berlin sowie eine kurze russische Kriegsgefangenschaft weitgehend unverletzt. Nach dem Krieg holte er sein Abitur nach. Ein Pharmazie-Studium blieb ihm jedoch aufgrund einer in der Gefangenschaft zugezogenen Lungentuberkulose verwehrt, sodass er an der neu gegründeten Freien Universität Berlin ein Jurastudium aufnahm. Nach dem 2. Staatsexamen und einigen kurzen beruflichen Stationen kam er zur Staatsanwaltschaft Frankfurt am Main, wo er bis zu seinem Ruhestand 1993 tätig war.

Sehr bald wurde er Teil des Teams um Fritz Bauer, das die Anklageschrift für den Frankfurter Auschwitzprozess gegen zunächst 22, später 20 Beschuldigte vorbereitete und vertrat. Mit großer Anschaulichkeit berichtet Wiese von den Herausforderungen der Prozessführung – von der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten (zunächst im Frankfurter Römer, später im neu erbauten Bürgerhaus Gallus), der Beschaffung belastender Unterlagen und Informationen (oft aus dem Ausland) bis hin zu den Umständen eines Ortstermins des Gerichts in Auschwitz, bei dem Zeugenaussagen überprüft und bestätigt werden konnten.

Prägend für den Prozess waren die Zeuginnen und Zeugen, meist Überlebende der Shoah. Sie mussten erneut ins Land der Täter reisen, sich den Angeklagten im Gerichtssaal stellen und ihre Erinnerungen rekapitulieren – eine hochbelastende Situation, die viele an ihre seelischen Grenzen brachte. Mit spürbarer Betroffenheit erinnert sich Wiese: „Wir hatten immer gehofft, dass einer der Angeklagten sich entschuldigt oder Verantwortung übernimmt – aber das ist nie passiert.“

Wiese war verantwortlich für die Anklage gegen Wilhelm Boger und Oswald Kaduk, zwei der Hauptbeschuldigten. Er machte deutlich, wie mühsam es war, eine 700 Seiten umfassende Anklageschrift zu erstellen – ohne die heute selbstverständlichen technischen Hilfsmittel wie Drucker, Kopierer oder Internet, sondern nur mit mechanischen Schreibmaschinen.

Im Verlauf des Prozesses offenbarte sich durch die Zeugenaussagen die ganze Menschenverachtung des NS-Regimes. Besonders eindrücklich schilderte im Prozess Dr. Mauritius Berner, ein Arzt, wie er an der Rampe von Auschwitz einen Vorkriegsbekannten, ehemals Pharmavertreter und nun SS-Mann, um Hilfe bat – vergeblich. Breuers Frau und Kinder wurden ermordet; nur er selbst überlebte als Häftlingsarzt.

Im Frankfurter Auschwitzprozess plädierte die Staatsanwaltschaft für alle Angeklagten auf lebenslange Haft, überzeugt davon, dass die bloße Beschäftigung in Auschwitz und seinen Nebenlagern mindestens Beihilfe zum Mord bedeutete. Verurteilt wurden sechs Angeklagte zu lebenslanger Haft, die übrigen erhielten zeitliche Freiheitsstrafen. Gerhard Wiese übernahm anschließend die Hauptverantwortung für die Revisionsverfahren.

Seit seinem Ruhestand im Jahr 1993 engagiert sich Wiese als Zeitzeuge, insbesondere an Schulen, und berichtet über seine Erlebnisse. Mit einigen Anmerkungen und Ergänzungen aus dem Publikum ging ein eindrucksvoller Nachmittag zu Ende. Teilnehmerinnen und Teilnehmer aller Generationen drückten ihre große Dankbarkeit für Wieses Bericht aus. Ursprünglich war für diesen Termin eine Begegnung mit der Holocaust-Überlebenden Henriette Kretz geplant. Aufgrund familiärer Gründe musste sie jedoch absagen. Gerhard Wiese war dankenswerterweise kurzfristig bereit, zu kommen und zu berichten.

Die Veranstaltung war eine Kooperation des Projekts Zeitzeugen und der Katholischen Erwachsenenbildung Limburg und Wetzlar, Lahn-Dill-Eder sowie Westerwald – Rhein-Lahn (KEB) und der Pfarrei St. Christophorus Diezer Land.

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